Arbeitszeiterfassung – ein Experten-Interview

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Im Rahmen der aktuellen Diskussion rund um die geplante Arbeitszeiterfassung sprechen wir mit Dr. Sebastian Maiß, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Referent der Haufe Akademie. In diesem Interview bezieht er Stellung zum Gesetzesentwurf  des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und gibt spannende Einblicke in die möglichen Auswirkungen der geplanten Änderungen.

Haufe Akademie: Das BMAS kündigte einen Gesetzesentwurf zur Arbeitszeiterfassung an. Wie ist der aktuelle Stand?

Dr. Sebastian Maiß:  Anfang April hat das BMAS nun tatsächlich den ersten Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes vorgelegt, das Änderungen der Pflichten zur Arbeitszeiterfassung vorsieht. Dieser Entwurf muss nun aber noch die weiteren Stationen des Gesetzgebungsverfahrens durchlaufen, so dass es durchaus noch zu Anpassungen kommen kann. Ich rechne mit einem finalen Gesetz frühestens nach der parlamentarischen Sommerpause.

Haufe Akademie: Was sind die wesentlichen Inhalte des neuen Gesetzes?

Dr. Sebastian Maiß: Der Gesetzgeber setzt mit der Neufassung der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21) um. Danach sind Arbeitgeber verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Beschäftigten zu erfassen. Das Bundesarbeitsgericht las diese Pflicht systemwidrig aus den Bestimmungen des Arbeitsschutzes, konkret § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Der Gesetzgeber setzt die Vorgaben der Rechtsprechung nunmehr aber wieder an der richtigen Stelle um, dem ArbZG und passt § 16 Abs. 2 ArbZG an. Danach sind Arbeitgeber dem Grunde nach verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit der bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer:innen elektronisch am Tag der Arbeitsleistung aufzuzeichnen. Von der elektronischen Arbeitszeitaufzeichnung kann nur durch einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung abgewichen werden, wenn der Tarifvertrag eine entsprechende Öffnungsklausel enthält. Vertrauensarbeitszeit soll zwar weiterhin möglich sein, so dass der Arbeitgeber auf die Erfassung der Arbeitszeit verzichten kann.

Arbeitgeber können die Arbeitszeiterfassung zudem auf ihre Beschäftigten delegieren, müssen diesen auf Anforderung aber Auskunft über die aufgezeichnete Arbeitszeit geben. Zudem müssen Arbeitgeber bei einem Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung muss er dann durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass ihm Verstöße gegen das ArbZG bekannt werden. Verstöße gegen die Aufzeichnungspflicht sind bußgeldbewehrt und können mit einem Bußgeld von bis zu EUR 30.000,- geahndet werden.

Haufe Akademie: Welche Auswirkungen hat eine Arbeitszeiterfassung denn auf Überstunden?

Dr. Sebastian Maiß: Wir müssen zunächst einmal die Frage beantworten, was überhaupt Überstunden sind. Der Begriff „Überstunden“ beschreibt die Arbeitszeit des:der Arbeitnehmer:in, die über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinausgeht und von dem Arbeitgeber entweder angeordnet oder geduldet wird. Es ist also nicht jede geleistete Arbeitszeit zugleich eine ‚Überstunde‘ und damit auch nicht zwangsläufig zu vergüten. Denn der Arbeitgeber muss sich keine vergütungspflichtige Arbeitsleistung aufdrängen lassen. Daran ändert auch eine Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit dem Grund nach nichts.

Haufe Akademie: Muss ein:e Arbeitnehmer:in denn überhaupt mehr arbeiten als vertraglich vereinbart?

Dr. Sebastian Maiß: Das ist eine gute Frage. Beschäftigte müssen Überstunden grundsätzlich nur dann leisten, wenn dies arbeitsvertraglich oder auch in einem Tarifvertrag vereinbart ist. Besteht eine solche Pflicht nicht, muss ein:e Arbeitnehmer:in auch nicht mehr arbeiten als vertraglich vereinbart. Das allgemeine Direktionsrecht des Arbeitgebers reicht hierfür nicht aus. Arbeitgeber sollten daher besonderes Augenmerk auf die Gestaltung ihrer Arbeitsverträge legen und sich die Option zur Anordnung von Überstunden offenhalten.

Haufe Akademie: Sie sagen „grundsätzlich”. Gibt es Ausnahmen?

Dr. Sebastian Maiß: Zunächst einmal ist der:die Arbeitnehmer:in auch dann zur Ableistung von Überstunden verpflichtet, wenn ein Notfall vorliegt, z.B. Ware zu verderben droht. Fehlt hingegen eine arbeitsvertragliche Regelung, kann sich eine Verpflichtung zur Ableistung von Überstunden aus der Position des:der Arbeitnehmer:in ergeben. Dies gilt insbesondere für Führungskräfte, die zugleich sog. Leitende Angestellte sind. Diese sind auch dann verpflichtet, Überstunden zu leisten, wenn dies vertraglich nicht vereinbart ist.

Haufe Akademie: Und was ist, wenn arbeitsvertraglich gar keine Arbeitszeit vereinbart wurde?

Dr. Sebastian Maiß: In diesem Fall kann der Arbeitgeber die Lage der Arbeitszeit kraft seines Direktionsrechts nach billigem Ermessen bestimmen. Überstunden werden erst dann geleistet, wenn dieser Rahmen überschritten ist. Nach dem ArbZG darf allerdings ohnehin höchstens 8 Stunden pro Werktag gearbeitet werden. Dieser Zeitraum darf auf bis zu 10 Stunden werktäglich ausgeweitet werden, wenn dieses „mehr“ an 2 Stunden binnen 24 Wochen wieder ausgeglichen wird. Mit einer verpflichtenden Arbeitszeiterfassung wird die Einhaltung dieser gesetzlichen Vorgaben nunmehr transparent – und zwar auch für die Prüfbehörden.

Haufe Akademie: Kling kompliziert.

Dr. Sebastian Maiß: Ist es aber gar nicht. Denn das ArbZG geht davon aus, dass die Tage Montag bis Samstag „Werktage“ sind, an denen der:die Arbeitnehmer:in arbeiten darf. Dies bedeutet, dass eine Tätigkeit an jedem Werktag von bis zu 8 Stunden erlaubt ist, so dass die wöchentliche Höchstarbeitszeit 48 Stunden beträgt. Die meisten Beschäftigten arbeiten aber ohnehin nur an 5 Tagen pro Woche, z.B. Montag bis Freitag, so dass der Samstag immer der Ausgleichtag ist. Dann könnte an diesen 5 Wochentagen ebenfalls bis zu 48 Stunden gearbeitet werden. Und noch weiter: Da der Ausgleich nicht immer am darauffolgenden Samstag zu erfolgen hat, sondern binnen 24 Wochen, kann der:die Arbeitnehmer:in also rein theoretisch bis zu 60 Stunden pro Woche arbeiten.

Haufe Akademie: Das ist viel. Aber sind Überstunden auch zu vergüten?

Dr. Sebastian Maiß: Hier kann ich nur mit der beliebten Juristenantwort dienen. Es kommt drauf an! Und zwar darauf, was im Arbeits- oder Tarifvertrag zu Überstunden geregelt ist. Denn es ist ein Irrglaube, dass jede geleistete Überstunde auch bezahlt werden muss. Schlechte Nachrichten gibt es zunächst einmal für Leitende Angestellte und Besserverdiener: Sobald ein:e Arbeitnehmer:in eine Vergütung oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung erhält (derzeit West EUR 7.300,- Ost EUR 7.100,-) hat er keinen Anspruch auf Vergütung von Überstunden. Für alle anderen Arbeitnehmer:innen können Arbeitgeber in Arbeits- und Tarifverträgen vereinbaren, dass eine bestimmte Anzahl geleisteter Überstunden mit der Vergütung abgegolten ist.

Haufe Akademie: Welche Bedeutung hat es, wenn ein Arbeitnehmer in Vertrauensarbeitszeit tätig wird?

Dr. Sebastian Maiß: „Vertrauensarbeitszeit” bedeutet nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zunächst einmal nur, dass der Arbeitgeber auf die Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit verzichtet und darauf vertraut, der:die betreffende Arbeitnehmer:in werde seine Arbeitspflicht in zeitlicher Hinsicht auch ohne Kontrolle erfüllen. Dieses Arbeitszeitmodell soll auch nach dem derzeitigen Entwurf der Neufassung des ArbZG weiterhin möglich bleiben. Vertrauensarbeitszeit ist hingegen kein Gestaltungsmittel zur Vermeidung von Überstunden. Denn das Bundesarbeitsgericht hat bereits 2019 entschieden, dass Vertrauensarbeitszeit nicht bedeutet sie, dass ein Anspruch auf Vergütung von Überstunden generell nicht bestünde. Denn immer dann, wenn es der:die Arbeitnehmer:in durch den Umfang der vom Arbeitgeber zugewiesenen Arbeit schlichtweg nicht mehr in der Hand, „Überstunden“ durch die Selbstbestimmung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit „auszugleichen“, sind diese soweit arbeitsvertraglich nichts anderes geregelt ist, zu vergüten. Durch die neuen Vorgaben zur Erfassung der Arbeitszeit sind damit jedenfalls solche Modelle einer Vertrauensarbeitszeit tot, die in der Vergangenheit als „Überstundenauszahlungsvermeidungsstrategie“ gelebt wurden.

Haufe Akademie: Nehmen wir einmal an, der:die Arbeitnehmer:in hat tatsächlich Überstunden geleistet. Und wenn der Arbeitgeber diese nicht freiwillig auszahlt?

Dr. Sebastian Maiß: Er sollte zunächst einmal einen Blick ganz ans Ende seines Arbeitsvertrages oder in den Tarifvertrag werfen. Denn dort finden sich – jedenfalls in gut gestalteten Arbeitsverträgen – regelmäßig sog. Ausschlussfristen. Diese verkürzen die gesetzliche Verjährungsfrist von 3 Jahren auf 3 Monate nach Entstehung des Anspruchs.

In einem zweiten Schritt sollte der:die Arbeitnehmer:in prüfen, ob seine Arbeitszeit erfasst ist, um in einem gerichtlichen Verfahren auch nachweisen zu können, dass er Überstunden geleistet hat. Das ist nämlich alles anderes als einfach. Die Anforderungen sind hoch und stellen in der Praxis für die meisten Beschäftigten ein unüberwindbares Hindernis dar. Besser sieht es für diejenigen Arbeitnehmer:innen aus, die in einem gerichtlichen Verfahren beispielsweise durch den Arbeitgeber abgezeichnete Stundenzettel vorlegen können oder die Arbeitszeiten in einer elektronischen Arbeitszeiterfassung durch den Arbeitgeber unbeanstandet erfasst sind. In diesem Fall geht das Bundesarbeitsgericht aus, dass die so erfassten Zeiten durch den Arbeitgeber jedenfalls gebilligt wurden. Der neue Gesetzesentwurf zur Arbeitszeiterfassung könnte daher ebenfalls Erleichterungen für Arbeitnehmer:innen bringen, da sie zukünftig einen Anspruch gegen ihren Arbeitgeber auf Auskunft der erfassten Arbeitszeit haben sollen.

Haufe Akademie: Wie lautet Ihr Fazit?

Dr. Sebastian Maiß:  Wie die finale Neufassung des ArbZG und damit der Arbeitszeiterfassungspflicht aussehen wird, bleibt abzuwarten. Die Leitplanken sind gesetzt und geleistete Arbeitszeit wird zukünftig sichtbar. Dies ist multifaktorielle Herausforderung für Arbeitgeber auf der Ebene des Arbeitsschutzes sowie der Vergütungs- und Organisationsstrukturen. Letztlich kann man aber sagen, dass Arbeitszeitehrlichkeit der Schlüssel zum Erfolg für Arbeitgeber und ein elementarer Baustein einer guten Arbeitszeitcompliance sein wird: Wer nichts zu verstecken hat, wird die Vorgaben der Rechtsprechung und des Gesetzgebers ohne weiteres umsetzen können. Es gibt zudem bereits jetzt genug progressive Ideen, wie man sich von dem bloßen Faktor Zeit lösen und den Inhalt der Arbeit in den Fokus stellen kann. Denn am Ende dreht sich doch alles um die Frage, was überhaupt Arbeitszeit ist? In einer modernen Arbeitswelt verfließt die Grenze zwischen Freizeit und Arbeit zunehmend. Wer seine Belegschaft ehrlich und fair behandelt, wird dafür belohnt: Mit Treue und Leistungsbereitschaft sowie dem Ruf als attraktiver Arbeitgeber der Zukunft.

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Über den:die Autor:in

Dr. Sebastian Maiß

Dr. iur., Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner einer Kanzlei für Arbeitsrecht. Langjährige Beratung und Vertretung von Unternehmen in allen Fragestellungen des Individual- und Kollektivarbeitsrecht. Herr Maiß ist erfahrener Referent und Autor zahlreicher Publikationen.

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