Ein Lob der Tarifautonomie

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Die Tarifautonomie in Deutschland ist eine weithin unterschätzte, großartige Erfolgsgeschichte. Sie wird auch weiter erfolgreich sein.
Der Staat kann dabei helfen, indem er sich zurückhält.

Das System der Tarifautonomie wird in der Öffentlichkeit meist nur wahrgenommen, wenn es Probleme gibt. Das ist bei Tarifkonflikten der Bahn, der Lufthansa oder im öffentlichen Dienst schnell der Fall. Die vielen Verhandlungen, die glatt laufen, bleiben unterhalb des Radars. Es bleibt unbemerkt, dass es sich bei der Tarifautonomie um das vielleicht erfolgreichste politisch-gesellschaftliche System der Bundesrepublik handelt. Oft nahezu geräuschlos und in vernünftigem Zeitrahmen legen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften die Arbeitsbedingungen für über 20 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erfolgreich fest.

Auch in aktuellen Debatten ist das Glas immer mindestens halb leer. Für die Arbeitgeber hat der Eingriff des Staates durch den Mindestlohn das System beschädigt. Die Arbeitnehmerseite beklagt seine mangelnde Leistungsfähigkeit in einzelnen Bereichen. Über Einzelthemen gerät die großartige Leistung des Systems aus dem Blick.

Was ist Tarifautonomie?

Tarifautonomie bezeichnet das Recht von Arbeitgebern und Arbeitnehmenden, unabhängig voneinander Tarifverträge abzuschließen, ohne staatliche Einmischung. Dies ermöglicht es den Parteien, Arbeitsbedingungen wie Löhne, Arbeitszeiten und andere Arbeitsplatzregelungen frei zu verhandeln und festzulegen.

Tarifautonomie: Was macht es so wertvoll?

US-Investor Warren Buffet spricht gern von seinem Vertrauen in das System USA: “The system works”. Allerdings macht er eine große Ausnahme: “Wir haben es nicht geschafft, alle in der Gesellschaft angemessen an den Früchten des Erfolges zu beteiligen”. Auch Deutschland ist nicht das Paradies auf Erden. Aber die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind bei weitem nicht so bedrückend.

Ein wesentlicher Grund für den Unterschied ist, dass in den USA ein ähnlich breitenwirksames Instrument der Aushandlung von Arbeitsbedingungen fehlt. Insgesamt gibt es nicht viele Länder, in denen die Sozialpartner autonom für eine breite Masse von Arbeitnehmenden so effizient die Entgelte regeln. Unser System hat Seltenheitswert. In der Breite produziert es faire Löhne, und es schafft in der Regel auch, Arbeitskämpfe zu vermeiden.

Tarifverhandlungen: die Vorteile

Dazu kommen weitere Vorteile, die immens wichtig, aber weniger leicht zu erkennen sind. Der gelingende Verhandlungsprozess erzeugt Qualität. Beide Seiten beherrschen die Materie. Das fördert eine Qualität, die nicht zu erreichen ist, wenn nur in der eigenen Echokammer diskutiert wird. Nicht jede Idee aus Management oder Gewerkschaft ist reine Weisheit. Die Lösung entsteht im Dialog. Das Ergebnis ist dann ein “Kompromiss”, aber eben auch gut. Die Mitarbeiterschaft kann ohne Schwierigkeiten eingebunden werden. Das hilft dem Betriebsklima und der Produktivität.

Der Dialog schafft Nähe

Der Verhandlungsprozess stellt einen Kontakt her, der anders kaum erreichbar ist. Es gilt der schöne Satz: ”Auch Reibung erzeugt Wärme”. Im Verhandlungsprozess ist Verlässlichkeit gefordert. Damit wachsen Respekt und Vertrauen. Man erkennt die Bandbreite der Gemeinsamkeiten. Diese kulturelle Annäherung ist vielleicht das wertvollste, das die Tarifautonomie hervorbringt. Unternehmerisches Denken bleibt dabei nicht das Monopol der Arbeitgeberseite.

Entscheidungs- und handlungsfähig bleiben

Die Nähe macht entscheidungs- und handlungsfähig, gerade in Krisenzeiten. Mit Staunen nahm man in Europa zur Kenntnis, wie schnell sich in der Finanzkrise in Deutschland Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeber auf Regelungen zur Vermeidung von Massenentlassungen einigten. Welche Risiken bestehen, wenn die Sozialpartner sich fremd bleiben, zeigt ein Rückblick in die Weimarer Republik.

Haltung und Werte

Hinter dem System stehen Haltungen. Den Arbeitgebern ist bewusst, dass ein Unternehmen mehr können muss als Dividenden ausschütten. Wenn jetzt die amerikanische Wirtschaft von der Lehre des Shareholder Value Abschied nimmt, haben wir nur da Handlungsbedarf, wo wir unsere Prinzipien vergessen haben. Das ist in den wichtigen Industriezweigen nicht der Fall. In allen Branchen gibt es auf der Seite des Managements und der Eigentümer den Respekt vor der Rolle und der Leistung der Mitarbeiter.

Ein Blick in die Zukunft

Trotzdem ist das System herausgefordert. Zur Jahrtausendwende arbeiteten noch zwei Drittel der Beschäftigten unter den Bedingungen eines Verbands- oder Firmentarifvertrages, heute sind es noch 51 %. Die Gründe sind „Tarifflucht“, aber auch Strukturwandel. In neuen Unternehmen ist Tarifbindung nicht mehr selbstverständlich, und Arbeitnehmenden liegt ein Engagement in Betriebsrat oder Gewerkschaft fern (F.A.Z. vom 21.7.2023).

Den Staat beunruhigt die Entwicklung. Er will gegensteuern und wird zum Mitspieler. Nach Mindestlohn und Eingriffen in der Fleischindustrie sollen jetzt öffentliche Aufträge an das Vorhandensein eines Tarifvertrages geknüpft werden. Und das Arbeitsverhältnis ist ohnehin Objekt detaillierter Regelung. Können Eingriffe des Staates die Tarifautonomie vital und kraftvoll halten? Damit würde man seine Möglichkeiten überschätzen. Der Staat verhebt sich, wenn er Arbeitgeber und Gewerkschaften zum Jagen tragen will. Seine Intervention kann die Eigenmotivation der Sozialpartner und ihrer Mitglieder nicht ersetzen.

Fazit

Der Staat braucht Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Tarifpartner. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften tun viel dafür, sich weiterzuentwickeln und relevant zu bleiben. Es besteht kein Zweifel, dass es ihnen gelingen wird. Trotzdem hat der Staat einen wichtigen Hebel in der Hand: die Regelungsdichte, mit der er das Arbeitsverhältnis überzieht. Warum sollen sich Arbeitnehmer in Gewerkschaften oder Betriebsräten organisieren, wenn der Staat schon auf jede kleine Wunde ein Pflaster geklebt hat? Was hält Arbeitgeber im Verband, wenn nicht die Erwartung, dass für sie dringende Probleme praxisnah gelöst werden? Wenn alles gesetzlich geregelt ist, bleibt wenig Raum für die Sozialpartner.

Harms Lefnaer, der die Arbeitgeber der Glas- und Solarindustrie vertritt, rät auch den Gewerkschaften, sich ihr Gestaltungspotential nicht durch den Gesetzgeber nehmen zu lassen. “Die unorganisierten Bereiche werden bei zunehmender Zurückhaltung des Gesetzgebers schwinden”. Es liegt an der Politik, den Raum für Tarifpolitik nicht zu verengen, und zurückhaltend bei der weiteren Regulierung der Arbeitswelt zu sein.

Diese Zurückhaltung darf nicht dazu führen, dass das Arbeitsverhältnis “rechtsfreier” wird. Die Arbeitgeberseite wird zu akzeptieren haben, dass sie einen Preis hat. Es reicht dann nicht mehr, Nein zu mehr Regulierung zu sagen. Es muss Ja gesagt werden, ja, wir regeln das, zusammen mit dem Sozialpartner. Auch wenn das bedeutet, mal über den eigenen Schatten zu springen.

Aber auch die Gewerkschaften müssen sich umstellen. Nicht die Lösung beim Staat suchen, wenn sie beim Sozialpartner nicht weiterkommen, sondern dranbleiben bis zur gemeinsamen Lösung. Beide Seiten müssen gemeinsam gewinnen, das ist die Formel, sonst wird die Gesellschaft das Modell nicht akzeptieren.

Die Sozialpartner haben das Potential, große Fragen gemeinsam zu lösen. Das haben sie oft gezeigt. Angesichts der aktuellen Herausforderungen wird dieses Potential benötigt wie selten zuvor. Die Politik sollte ihren Fähigkeiten vertrauen und für den nötigen Spielraum sorgen. Dann wird man noch lange sagen können: “The system works!”

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Über den:die Autor:in

Michael Dreier

ist Rechtsanwalt, spezialisiert auf die Verhandlung komplexer Konflikte der Sozialpartner auf Betriebs-, Unternehmens- und Tarifebene. Herr Dreier verfügt über langjährige Erfahrung als Geschäfts- und Verhandlungsführer eines Arbeitgeberverbandes und in leitenden Personalfunktionen internationaler Unternehmen.

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