Candidate Experience: mit Absagen gewinnen!

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„Wir teilen Ihnen leider mit, dass Sie bei der Besetzung der Stelle nicht berücksichtigt werden konnten.”

Diesen Satz kennt jede:r HR-Manager:in auswendig und hat ihn schon unzählige Male an Bewerber:innen geschickt. Doch die Zeiten im HR-Recruiting ändern sich und längst bewerben sich Kandidatinnen und Kandidaten nicht mehr nur bei Unternehmen: Auch der Arbeitgeber bewirbt sich bei seinen Kandidierenden! Das Trend- und Zauberwörtchen heißt hier „Candidate Experience”, deren aktive Gestaltung und Umsetzung in der Praxis nicht schwierig und mit einfachen Mitteln machbar ist. Mit der Etablierung einer Kultur der freundlichen und offenen Kommunikation auf Augenhöhe mit allen Kandidierenden ist die größte Hürde genommen. Und das nur durch die Veränderungen der Einstellung aller am bestehenden Recruitingprozess Beteiligten – ohne zusätzliche Kosten.

Unternehmen bewerben sich bei Kandidatinnen und Kandidaten – nicht umgekehrt

Um Top-Kandidierende für offene Stellen anzusprechen, ist es für Unternehmen wichtig, den klassischen Rekrutierungsprozess weiterzuentwickeln. Denn Unternehmen bewerben sich bei zukünftigen Mitarbeitenden. In der Theorie klingt das logisch, in der Praxis ist eine Umsetzung nicht immer einfach. Als Orientierung kann das Modell der Candidate Journey verwendet werden. Die Candidate Journey ist die Zusammenfassung aller Touch-Points, die Bewerbende mit dem Unternehmen während des Bewerbungsprozesses haben.

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Laut Modell ist das Ziel von Unternehmen, ein positives Branding bereits vor der aktiven Jobsuche bei potenziellen Kandidierenden zu schaffen. Regelmäßige Jobwechsel gehören zu einer aktiven Karriereplanung dazu und zukünftige Kandidatinnen und Kandidaten wissen oft schon, in welches Unternehmen sie für den nächsten Karriereschritt ziehen. Unternehmen können an diesem Punkt ansetzen und mit interessierten Kandidierenden durch sinnvoll strukturiertes Personalmarketing in Kontakt treten. Hier ist alles möglich: von der Unternehmenswebseite, über Social Networks und Bewertungsportale, bis hin zu Recruitingveranstaltungen. Auch betriebsinterne Recruitingaktionen sowie die Nutzung von Kontakten von Mitarbeitenden sollten in die HR-Planung integriert werden. Hier schlummert Potenzial, denn gute Mitarbeiter:innen kennen Talente!

Stimmigkeit in allen Phasen und Kanälen

In der Realität ist eine umfassende Branding-Kampagne in der frühen Phase der Candidate Journey nicht immer möglich. Oft steigen Bewerber:innen erst in späteren Phasen in den Recruitingprozess ein. Zu beachten ist dann, dass in diesem Fall Stellenausschreibung, Unternehmenswerte auf den Webseiten und Kommentare in Bewertungsportalen und Social Media-Kanälen stimmig sind. Und ist – unter Branding-Gesichtspunkten – der Auswahlprozess nicht auch ein Verkaufsargument? Ein starrer Recruitingprozess bei einem innovativen Start-up-Unternehmen zeichnet der sich bewerbenden Person nicht nur ein falsches Bild des Unternehmens, sondern schädigt das Unternehmensimage! Im Zweifelsfall steigt der:die Bewerber:in enttäuscht vorzeitig aus dem Verfahren aus und wird dies auch noch seinem Umfeld mitteilen.

Weitere Risiken, Bewerber:innen schon früh im Verfahren abzuschrecken, liegen insbesondere in zu langen Wartezeiten zwischen den Touch-Points. Die Begeisterung nach einer versendeten Bewerbung hält bei den Kandidierenden nicht ewig an. Deshalb sollte versucht werden, die Kommunikation mit den Bewerbenden in möglichst kurzen Abständen umzusetzen und die Phasen des Auswahlprozesses transparent zu kommunizieren.

Candidate Experience – Der:die Bewerber:in wird zum König

Die Candidate Experience ist Teil eines erfolgreichen Personalmarketings und sollte über den gesamten Rekrutierungsprozess im Mittelpunkt stehen. Jeder Touch-Point der bewerbenden Person mit dem Unternehmen sollte ein positives und motivierendes Erlebnis sein. Als Maxime könnte gelten: Der:die Bewerber:in ist König! Und wenn Recruiter sich dann noch auf die Fahnen schreiben, sich in ihre Bewerbenden hineinzuversetzen – z. B. mal durch eine simple, anonyme „Testbewerbung“ im eigenen Unternehmen die Perspektive zu wechseln –, spielen Sie in der Königsklasse!

ABC-Ranking

HR-Abteilungen, die bis jetzt noch kein ABC-Ranking nutzen, können überlegen, diese Methode zum Aufbau und Ausbau des Talent-/ Expertenpools zu nutzen. Hier werden Bewerber:innen in Kategorien A, B und C eingestuft, A = geeignete Kandidierende, B = bedingt geeignete Kandidierende und C = ungeeignete Kandidierende. A-Kandidierende werden zu einem Gespräch eingeladen, B-Kandidierende werden unter Umständen eingeladen und/oder nach Rücksprache in den Talent-/ Expertenpool übernommen. C-Kandidierende erhalten eine zeitnahe Absage. A-Kandidierende, die nicht für die Stelle ausgewählt werden, sollten, wenn möglich, in den Pool aufgenommen werden. Verbessern Sie die Candidate Experience weiter, indem Sie Kandidierende, die Sie in den Pool aufnehmen möchten, persönlich Feedback geben, sich deren Einverständnis holen – und ggf. sogar abstimmen, für welche zukünftigen Positionen sie geeignet sein könnten!

Ein positives Unternehmensimage kann ein verfrühtes Aussteigen der Kandidierende aus dem Bewerberprozess vermeiden, auch die Anzahl an A-Kandidierende kann dadurch hochgehalten werden. Im Optimalfall können es Unternehmen schaffen, abgelehnte Kandidierende durch einen transparenten Prozess und faires Feedback als Multiplikatoren und positive Markenbotschafter zu gewinnen. A- und B-Kandidierende sollten, nach Absprache, in den Talent-/ Experten-Pool aufgenommen werden.

Grafik Candidate Experience_6 Stationen

Trotz Absage gewinnen

Absagen sind häufig unpersönlich, langweilig und zu formal formuliert – Hauptsache „AGG-sicher”. Somit steht die Absage in keinem Verhältnis zum Aufwand der sich bewerbenden Person. Das ist schade, denn die Absage ist ein anspruchsvoller Touch-Point der Candidate Journey und kann mit wenigen Mitteln optimiert werden. Kreative und mutige Formulierungen können helfen, der negativen Nachricht eine freundliche Note zu verleihen und den:die Empfänger:in positiv auf den Bewerbungsprozess blicken zu lassen. Nachhaltig verstärken können Unternehmen das gute Gefühl durch die Aufnahme von A- und B-Kandidierende in den Talentpool – natürlich nur nach Einwilligung des Kandidierenden. Innerhalb der Richtlinien des AGG sollte eine Absage persönlich formuliert sein und den:die Bewerber:in zuversichtlich auf mögliche zukünftige Bewerbungen und seine berufliche Perspektive blicken lassen.

Telefonisches Feedbackgespräch mit Kandidatinnen und Kandidaten aus der letzten Runde als „Recruiting-Standard”

Allen Bewerber:innen, die Sie persönlich kennengelernt haben, sollten Sie auch persönlich absagen. Ein faires und strukturiertes Feedback kann dem:der Bewerber:in helfen, die Absage sportlich zu nehmen.

Der Aufbau eines guten Feedbackgesprächs

  • Das Gespräch beginnt mit einem positiven Rückblick auf die Bewerbungsunterlagen.
  • Es folgt ein kurzer aufbauender Hinweis zum Bewerbungsgespräch.
  • Sämtliche Botschaften als Ich-Botschaften formulieren.
  • Begründungen für Absage auf Zulässigkeit in puncto AGG prüfen und im Gespräch selber auf eine saubere Formulierung der Gründe achten.
  • Grundsätzlich wird dem:der Bewerber:in vermittelt, dass es sich bei den Ablehnungskriterien nicht um ein Gesamturteil handelt und die Absage nicht persönlich motiviert ist.
  • Die Kränkung einer Absage kann nicht weggeredet werden, aber das Gespräch kann mit einer Ermutigung enden. Es gibt zukünftig weitere Positionen, die für den:die Kandidat:in geeignet sein können!

Beispiele für AGG-sichere Absagegründe

  • Schlüsselqualifikationen, die in der Ausschreibung ausdrücklich gefordert wurden und laut Bewerbung vorhanden sind, können in einem persönlichen Gespräch nicht bestätigt werden.
  • Der:Die Bewerber:in machte ungefragt Angaben über vertrauliche Angelegenheiten des derzeitigen Arbeitgebers.
  • Es war der sich bewerbenden Person nicht möglich, zu einer ihm geschilderten speziellen fachspezifischen Problematik Ideen oder Lösungsansätze zu entwickeln.
  • Der:Die Kandidat:in konnte trotz behaupteter Sprachkenntnisse kein Gespräch in der angeblich beherrschten Fremdsprache führen.
  • Obwohl der:die Bewerber:in bestimmte Weiterbildungen absolviert hat, kann er keine Angaben zu deren Inhalten machen.

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Über den:die Autor:in

Susanne Nickel

Rechtsanwältin und Wirtschaftsmediatorin, Expertin für Change Management, Leadership und Recruiting, langjährige Tätigkeit als Managerin und Beraterin in nationalen und internationalen Unternehmen.

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