Recruiting: Anforderungsprofil mit mehreren erarbeiten

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Ein Anforderungsprofil dient als Basis für die Bewertung möglicher Bewerber:innen auf eine bestimmte Stelle (A-, B-, C-Kandidat:innen; Ermittlung der Stärken und Schwächen bezogen auf die Stelle). Das Anforderungsprofil beschreibt vorausgesetzte oder gewünschte Attribute (Eigenschaften, Fähigkeiten, Merkmalen). Aus einem Recruiting-Prozess mit einem dezidierten Anforderungsprofil wird die am besten geeignete Person hervorgehen. Es hilft Ihnen festzustellen, ob ein:e Bewerber:in über alle wichtigen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt und auch als Person für die Aufgabe geeignet ist.

– Vorgehensweise: Workshop mit Stakeholdern:innen
– Praxistipp: Virtuelle Anforderungsprofil-Entwicklung
– Praxistipp: Wenn viele Stakeholder:innen mitreden – mit der Kartenmethode schnell Kompetenzen identifizieren

Herausforderung im Recruiting: Erarbeitung eines Anforderungsprofil mit mehreren Stakeholdern:innen

Als Mitarbeitende im Personalmanagement erarbeiten Sie zu Beginn eines Recruiting-Prozesses ein Anforderungsprofil, idealerweise gemeinsam mit der Führungskraft. Was aber, wenn mehrere Entscheider:innen aus unterschiedlichen Abteilungen daran zu beteiligen sind? Es ist eine große Herausforderung, alle Beteiligten und ihre unterschiedlichen Erwartungen an ein Anforderungsprofil zu comitten und ein für alle zufriedenstellendes Ergebnis zu erarbeiten.

Wie holen Sie alle ab? Wie erschaffen Sie ein einheitliches Bild der Anforderungen mit mehreren Stakeholdern:innen aus unterschiedlichen Abteilungen?

Am Beispiel Vertriebsleiter:in wird die Herausforderung – Erarbeitung eines Anforderungsprofils mit mehreren Verantwortlichen aus unterschiedlichen Fachabteilungen – dargestellt.

Aufgabenstellung: Anforderungsprofil Vertriebsleiter:in erarbeiten

Die Entwicklung eines Anforderungsprofils für die Führungsfunktion „Vertriebsleiter:in“ für gehobene Konsumgüter. Im Verantwortungsbereich liegt die Steuerung der Verkäufer:innen in den regionalen Verkaufsgebieten.

Vorgehensweise: Workshop mit Stakeholdern:innen

Workshop mit acht Personen – Kaufmännische Geschäftsführung, Vertriebs-Geschäftsführung, Leitung Finanzen, Leitung Marketing, drei Verkaufsdirektoren:innen, Leitung Human Resources. Innerhalb eines halben Tages sollen mit den beteiligten Personen die zentralen Kompetenzen (Soft Skills und Motivation zur Arbeit im Job und der Organisation) erarbeitet und somit eine gemeinsame Sicht auf die Position „Vertriebsleiter:in“ entwickelt werden. Damit Sie ein Gefühl für den damit verbundenen Zeitaufwand bekommen, sind die Zeiten in Klammern aufgeführt.

1. Stellen- und unternehmensbezogene Motivation klären (40 Min)
2. Rollen eines Vertriebsleiters identifizieren (30 Min)
3.
Hauptaufgaben festlegen (25 Min)
4.
Critical-Incident-Ansatz: Erfolgskritische Situationen beschreiben (60 Min)
5.
Zentrale Kompetenzen identifizieren (85 Min)
– Kompetenzen bzw. Soft Skills aus Sicht der Workshop-Teilnehmer:innen klären
– Unterschiedliche Vorstellungen diskutieren und auf ein einheitliches Ergebnis einigen

1. Stellen- und unternehmensbezogene Motivation klären

Was zeichnet eine:n passende:n Bewerber:in aus? Welche Motivation sollte er:sie mitbringen? Die Passung zur Position und zur Organisation wurde mit konkreten Fragen an die Teilnehmenden erarbeitet.

Passung zur Tätigkeit oder Job-Fit

  • An welchen Aspekten der Tätigkeit sollte der:die Bewerber:in Freude haben?
  • Welche Frustrationsquellen muss der:die Bewerber:in in der Stelle aushalten?

Passung zur Organisation oder Organisational-Fit

  • Was sollte dem:der Bewerber:in an der Organisation bzw. der Organisationskultur gefallen?

Im Bewerbungsgespräch werden Fragen und vor allem die Antworten der Bewerber:innen von verschiedenen Personen unterschiedlich gewichtet. Daher sind Diskussion und Klärung der Erwartungen der Teilnehmenden an den:die Bewerber:innen sehr wichtig.

2. Rollen eines Vertriebsleiters identifizieren

Die Position des:der Vertriebsleiters:in hat unterschiedliche Rollen im jeweiligen Unternehmen. Für die Erstellung eines Anforderungsprofils ist die Frage nach den Rollen sehr wichtig, da sich hinter den Rollen immer ein Set von damit verbundenen Fähigkeiten und Kompetenzen verbirgt. Damit ist die Basis zur Beantwortung der geforderten Kompetenzen sowie die Hauptaufgaben gelegt.

Einige der gefundenen Rollen in der jeweiligen Organisation waren: Verhandler:in, Verkäufer:in, Analytiker:in, Zahlenjongleur:in, Führungskraft, Kontrolleur:in, Informationssammler:in für Marketing, Coach:in.

3. Hauptaufgaben festlegen

Die Hauptaufgaben wurden aus den vorliegenden Stellenbeschreibungen entnommen. Danach wurde geprüft, inwieweit sich aus den bereits erarbeiteten Rollen weitere Hauptaufgaben ergeben bzw. Aufgaben neu gewichtet werden müssen. Die Integration der Rollen führte also zu einer Qualitätssicherung.

Folgende Hauptaufgaben wurden u. a. festgelegt: Steuern der Verkäufer:innen in der Region, Erreichen der Umsatzziele.

 4. Erfolgskritische Situationen beschreiben

Welche erfolgskritischen Situationen muss ein:e Vertriebsleiter:in im jeweiligen Unternehmen bewältigen, um erfolgreich zu sein? Dieser Critical-Incident-Ansatz erweitert den Blick auf die in der Folge zu definierenden Kompetenzen und ist eine große Hilfestellung für die zukünftigen Interviews. Top-Bewerber:innen sind diejenigen, die Erfahrung in den erfolgskritischen Situationen haben und diese auch im Unternehmenssinne richtig bewältigen. Natürlich wurden auch die vom Unternehmen erwarteten Verhaltensweisen bzw. Strategien abschließend diskutiert. Beispielhaft wurden folgende erfolgskritische Situationen identifiziert:

1. Situation: Kund:in lehnt Sonderpromotion/Verkaufsansatz zu Produkten ab.

Erwünschtes Verhalten:
1. Rückfragen stellen (Kund:innen verstehen wollen als Einstellung)
2. Analyse der Kundenbeziehung: Woran kann es liegen?
3. Alternative Vorschläge machen
4. Dem:r Kund:in Konsequenzen aufzeigen (Rückvergütung, Provision…) zu einem gut geeigneten Zeitpunkt

2. Situation: Kritisches Feedbackgespräch mit Verkäufer:innen zum Arbeitseinsatz

Erwünschtes Verhalten:
1. Sachliche Benennung der Kritik
2. Bereitschaft zum Gespräch und zur kritischen Selbstreflexion beim:bei der Verkäufer:in fördern (keine Vorwürfe, keine Verallgemeinerungen)
3. Fragend Ursachen aus Sicht des:r Verkäufers:in identifizieren
4. Gemeinsam Lösungen für die Zukunft entwickeln und vereinbaren

5. Zentrale Kompetenzen identifizieren

Abschließend wurden mit Hilfe der Kartenmethode auf Basis der bisherigen Erkenntnisse die zentralen Kompetenzen identifiziert. Zunächst wurde innerhalb von Kleingruppen gearbeitet, die sich dann die Ergebnisse gegenseitig präsentierten. Alle hatten den Auftrag die aus ihrer Sicht relevanten Kompetenzen aus einer Sammlung von ca. 29 Kompetenzen auszuwählen. Diese Kompetenzen sind sowohl über eine Begriffsdefinition als auch über verhaltensbeschreibende Auswertungshinweise konkretisiert. Bis zur Einigung über die endgültigen Kompetenzen gab es viel Diskussionsbedarf und alle Beteiligten der Organisation kamen erneut in den Austausch.

Durch diese Diskussion und die vorangegangenen Arbeiten wurde vor allem ein einheitliches Verständnis über die Funktion entwickelt. Zur Qualitätssicherung wurde geprüft, ob mit den festgelegten Kompetenzen alle Rollen und alle erfolgskritischen Situationen abgedeckt sind.

Softskills (Hinweis: zwischen 3-6 Kriterien auf „5“ festlegen)

Persönliche Kompetenz

  • Stellenbezogene (arbeitsplatzbezogene) Motivation
  • Leistungswille (Arbeitsmoral, Arbeitsethik)
  • Eigeninitiative
  • Stressresistenz/Belastbarkeit
  • Sorgfalt
  • Verhaltens-Flexibilität
  • Selbständigkeit/Eigenständigkeit
  • Lernbereitschaft
  • Neuerungsfreudigkeit (Innovationsbereitschaft)
  • Auftreten

Soziale Kompetenz

  • Konfliktfähigkeit
  • Kommunikationsfähigkeit (Zuhören/Reden/Ausdruck)
  • Teamfähigkeit/Zusammenarbeitsverhalten
  • Kontaktfähigkeit/Beziehungen aufbauen/Einfühlungsvermögen
  • Verhandlungsgeschick/Gesprächsführung
  • Verkaufsgeschick
  • Überzeugungskraft/Durchsetzungsvermögen

Methodische Kompetenz

  • Problemlösefähigkeit/Vernetztes Denken und Handeln
  • Selbst- und Zeitmanagement
  • Umsetzungsvermögen/Organisationsfähigkeit
  • Präsentation, Darstellungs- und Gestaltungskraft

Führungskompetenz

  • Zielsetzungs- und Planungskompetenz
  • Delegations- und Kontrollkompetenz
  • Mitarbeiter:innen fördern und entwickeln
  • Informationsverhalten
  • Teams führen
  • Managementkompetenz/Unternehmerisches Denken/Strategie

Fazit: Was war das Ergebnis?

  1. Ein einheitliches Verständnis der Stakeholder:innen zur Position „Vertriebsleiter:in“
  2. Festlegen der zentralen überfachlichen Kompetenzen
  3. Festlegen der stellen- und unternehmensbezogenen Motivation
  4. Identifizierung der erfolgskritischen Situationen

Auf Grundlage dieser Ergebnisse kann ein halbstandardisierter Interviewleitfaden inkl. Arbeitsproben entwickelt werden.

Praxistipp: Virtuelle Anforderungsprofil-Entwicklung

Natürlich stellt sich die Frage, wie solche Workshops online durchgeführt werden können. Ein aktuelles Projekt ist hier die Entwicklung von Anforderungsprofilen im Klinikumfeld. In mehreren 2,5-stündigen, Online-Workshops wurden jeweils die Anforderungsprofile für Pflegekräfte, Ärzte:innen, Therapeuten:innen und Psychologen:innen mit Experten:innen und Vertretern:innen der Personalabteilung geschärft. Ausgangspunkt waren Stellenanzeigen und bisher vorliegende Profile. Auf einer Kollaborationsplattform (hier Miro) wurden folgende Fragen nachgegangen:

  1. Klärung der stellenbezogenen Motivation 
  • Welche Aspekte der Tätigkeit sollte der:die Bewerber:in akzeptieren?• Welche Frustrationsquellen muss der:die Bewerber:in in der Stelle aushalten?
  • Was sollte der:die Bewerber:in an der Organisation bzw. der Organisationskultur schätzen?
  • In welcher Hinsicht sollte der:die Bewerber:in den Standort mögen oder akzeptieren?

Hilfreich war zudem, dass vorab auch Personas von Bewerber:innen entwickelt wurden

2. Mit dem Critical-Incident Ansatz wurden als nächstes erfolgskritische Situationen identifiziert.

  • Welche 3-5 erfolgskritischen Situationen gibt es in der Tätigkeit oder muss der:die Stelleninhaber:in bewältigen? (Wenn er:sie es schafft, ist er:sie ein:e gute:r Mitarbeiter:in, wenn nicht, dann höchstens ein:e durchschnittliche:r)
  • Für die erfolgskritischen Situationen wurden dann entweder
    konkrete Verhaltensweisen beschreiben oder
    mögliche Kompetenzen/Anforderungen benannt.

Auf Grundlage dieser Ergebnisse wurde im Nachgang das Anforderungsprofil entwickelt und qualitätsgesichert. In einem letzten Schritt wurde ein halbstandardisierter Interviewleitfaden für die verschiedenen Positionen entwickelt und in einem Interviewtraining zusammen mit weiterführenden Interviewfragetechniken in der Anwendung geschult.

Praxistipp: Wenn viele Stakeholder:innen mitreden – mit der Kartenmethode schnell Kompetenzen identifizieren

Was beinhalten die Karten?

Die Karten enthalten jeweils die Definition einer überfachlichen Kompetenz und die verhaltensbeschreibenden Auswertungshinweise:

Konfliktfähigkeit
Definiton: Fähigkeit und Bereitschaft mit Sach- und Interessenskonflikten konstruktiv und lösungsorientiert umzugehen

Auswertungshinweise

  • Erkennt drohende Konflikte und reagiert darauf
  • Geht notwendigen Konflikten nicht aus dem Weg
  • Bewältigt Konflikte konstruktiv
  • Übt angemessen Kritik und akzeptiert Kritik
  • Entwickelt sachliche Kriterien zur Entscheidung in Konfliktsituationen
  • Vertritt eigenen Standpunkt oder eine erforderliche Maßnahme, auch wenn Widerstände zu erwarten sind
  • Verhält sich auch als Betroffene:r in Konfliktsituationen konstruktiv und sachlich

Verhandlungsgeschick/Gesprächsführung
Definition: Informationsinhalte und/oder Argumente so geschickt und sicher präsentieren können, dass die Kommunikationspartner:innen bereit sind, die Aussagen zu akzeptieren und ihnen zuzustimmen.

Auswertungshinweise

  • Argumentiert schlüssig und nachvollziehbar
  • Berücksichtigt die Argumente seiner Gesprächspartner:innen, geht auf sie ein
  • Erreicht geschickt sein Gesprächsziel, ohne aufdringlich zu wirken
  • Überzeugt seine:ihre Gesprächspartner:in durch fundierte Kenntnisse
  • Beherrscht die Einwandbehandlung
  • Weiß sich in jeder Gesprächssituation zu helfen
  • Kann überzeugende frühere Verhandlungserfolge nachweisen
  • Bereitet sich gezielt auf Verhandlungen vor, weiß was er will.

Wann ist die Kartenmethode geeignet?

  • Die Kartenmethode ist für die Erarbeitung von überfachlichen Anforderungskriterien (Soft Skills) geeignet.
  • Sie lässt sich sowohl im Expertendialog als auch in der Einzelarbeit sehr gut anwenden.
  • Sie ist die schnellste Methode, wenn mehrere Personen in Gruppenarbeit beteiligt werden sollen.
  • Sie ist auch gut geeignet, wenn es um die Erarbeitung von Anforderungen an neue Positionen geht.

Wie funktioniert die Kartenmethode?

Ziel ist es, sich in zwei bis drei Durchgängen auf 4-7 zentrale Kompetenzen zu einigen:

  • Im ersten Durchgang werden die Kompetenzen in zwei Stapel aufgeteilt: WICHTIG und UNWICHTIG.
  • In den weiteren Durchgängen wird der WICHTIG Stapel aufgeteilt:
    SEHR WICHTIG und WICHTIG.

Die sehr wichtigen Kompetenzen werden dann im Interview überprüft. Wenn Sie die Kartenmethode aufgeteilt in mehreren Gruppen anwenden (wie im Fachbeitrag oben beschrieben), werden die Ergebnisse aus den einzelnen Gruppen miteinander verglichen und vereint. Die SEHR WICHTIGEN Kompetenzen werden zusammengetragen, Übereinstimmungen werden abgehakt und die Unterschiede bis zur Einigung diskutiert.

Literatur: Christian Berndt / Berndt Wierzchovski (2014): Systematische Bewerberinterviews – inkl. Arbeitshilfen online: Mit der VeSiEr-Methode Kompetenzen erkennen und bewerten. Haufe Verlag 3. Auflage 2018

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Über den:die Autor:in

Christian Berndt

Senior Consultant – Consulting Entwicklungsprogramme Haufe Akademie
https://www.haufe-akademie.de/evolve
Er entwickelt Leadership und Recruiting Projekte, vom Design, über Entwicklung in Co-Creation bis hin zum Training.

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